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Neurobiologie des Lesens: Wie funktioniert das Lesen im Gehirn?

Lesen ist eine enorme Leistung des Gehirns - Quelle: Pixabay
Lesen ist eine enorme Leistung des Gehirns - Quelle: Pixabay

Für das Lesen gibt es keine speziellen Gene, denn der Mensch ist nicht zum lesenden Menschen geschaffen. Die kulturelle Evolution des Lesens muss also innerhalb der biologischen Grenzen erfolgt sein. Unser heutiges Gehirn unterscheidet sich biologisch nicht von dem der ersten Höhlenmenschen, die noch nicht lesen und schreiben konnten. Der Unterschied besteht darin, dass wir die bestehenden Hirnstrukturen anders nutzen: Lernt man eine neue Fähigkeit, wie beispielsweise das Lesen, so verwendet unser Gehirn bereits bestehende Schaltkreise und passt sie an die neuen Gegebenheiten an. Dies nennt man Plastizität des Gehirns.

Vom gesehen zum verstandenen Wort
Heute reagieren Neurone, die ursprünglich zum Erkennen von Gesichtern und Formen zuständig waren, auf Buchstaben und Wörter. Somit erfolgt das Lesen in einer Hirnregion, deren Spezialität die visuelle Identifikation von Gegenständen ist. Alle Menschen, egal welche Sprache sie sprechen, lesen mit den gleichen Gehirnregionen. Ob Französisch, Deutsch, Russisch oder Chinesisch – das Lesen erlernt man stets mit den gleichen Schaltkreisen. Eine Metaanalyse, mit Hilfe bildgebender Verfahren über verschiedene Sprachen hinweg, hat gezeigt, dass bei allen Schriftsystemen drei große Hirnregionen – je nach Sprache in unterschiedlichem Maße – genutzt werden. Dies sind:

  1. der okzipitale -temporale Bereich => Erkennen und Entziffern der Schrift
  2. der frontale Bereich (Borca-Areal) => Phonetische Bedeutung
  3. der oberer Temporallappen und die benachbarten Parietallappen => Laut- und Bedeutungselemente bei Alphabet und Silbenschriften

Weiterhin gibt es zwei parallel arbeitende Verarbeitungswege vom gesehenen zum verstandenen Wort:

  1. phonologische Weg
  2. lexikalische Weg

Während beim phonologischen Verarbeitungsweg die Buchstaben in Sprachlaute (Phoneme) umgewandelt werden, eröffnet sich über den lexikalischen Weg der Zugriff auf ein Wörterbuch, in dem der Sinn des Wortes (Semantik) verankert ist.

Schwierigkeitsgrad des Lesen Lernens hängt von der Sprache ab
Lese- und Rechtschreibprobleme hängen auch mit der jeweiligen Muttersprache zusammen. So kann ein finnisches oder italienisches Kind nach wenigen Monaten jedes Wort seiner Sprache lesen, weil es dort praktisch keine unregelmäßigen Formen gibt. Sobald es verstanden hat, wie jedes Graphem (grafisches Schriftzeichen, wie Buchstaben und Ziffern) auszusprechen ist, kann es alle Laute lesen und schreiben. Französische, dänische und englische Kinder benötigen mehrere Jahre, um effizient lesen zu können. Selbst mit neun Jahren liest ein Franzose schlechter als ein Spanier oder Deutscher mit sieben Jahren, und ein englischer Schüler benötigt zwei Jahre zusätzlich, bis er das Leseniveau eines französischen Kindes erreicht hat.

Das Alter, um Lesen lernen zu können, hängt vom kindlichen Entwicklungsprozess ab
Die Myelinscheide dient der elektrischen Isolierung der Axone von Nervenzellen. Je mehr Myelin die Axone umhüllt, desto schneller kann das Neuron eine Ladung weiterleiten. Die Myelinisierung der Axone schreitet im sich entwickelnden Kindergehirn in den verschiedenen Hirnregionen jedoch unterschiedlich schnell voran. So sind alle sensorischen und motoririschen Areale bereits im Alter von fünf Jahren vollständig myelinisiert. In den Hirnregionen für visuelle, verbale und auditorische Informationsverarbeitung sind die Neuronen jedoch meist mit fünf Jahren - und auch später - noch nicht vollständig mit Myelin umhüllt. Somit haben Kinder mit fünf Jahren mehr Probleme das Lesen zu lernen als Kinder, die erst mit sieben Jahren das Lesen lernen.

Quellen:

  • Lesen – Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, Stanislas Dehaene, Knaus Verlag, 3. Auflage, 2010, ISBN: 378-3-8135-0383-8
  • Das lesende Gehirn – Wie der Mensch zum Lesen kam – und was des in unseren Köpfen bewirkt, Maryanne Wolf, Spektrum Akademischer Verlag 2010, ISBN: 978-3-8274-2747-2

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