Sind sexuelle Vorlieben erlernt oder angeboren?
Die Plastizität des Gehirns ist mitverantwortlich für Gewöhnung und Abhängigkeit. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass das menschliche Gehirn eine gewaltige Plastizität aufweist. Das Gehirn verändert sich fortwährend. Die Plastizität ermöglicht es, Menschen mit Hirnschädigungen, die zum Beispiel als Folge eines Schlaganfalls auftraten, verlorengegangene Fähigkeiten - wie das Gehen oder Sprechen - neu zu erlernen. Neuroplastizität besteht unter anderem im Bereich der Sinneswahrnehmungen, der Motorik, dem Lernen und auch der Sexualität.
Sexualität – ein reiner biologischer Instinkt?
Der menschliche Sexualinstinkt scheint sich von seinem eigentlichen Zweck, nämlich der Fortpflanzung, weit entfernt zu haben und weist eine enorme Vielfalt auf. Von der sexuellen Orientierung über Fetische, Voyeurismus bis hin zu Exhibitionismus und sexuellem Missbrauch ist alles Erdenkliche vorhanden.
Ginge man davon aus, dass die menschliche Sexualität ein instinktives, erbliches Verhalten darstellt, so dürfte sich das sexuelle Verhalten über Generationen hinweg nicht wesentlich verändert haben. Dies ist jedoch nicht der Fall: Betrachtet man beispielsweise die Veränderung des weiblichen Ideals über die Jahrhunderte, so galten früher üppige, runde, weibliche Formen als anziehend, während heute spargeldürre Models dem Idealtypus entsprechen. Auch die Inhalte der Pornografie haben sich über die Jahre verschärft. So galt noch vor dreißig Jahren die reine Darstellung des Geschlechtsverkehrs zweier Partner als Hardcore-Pornografie. Heute fällt diese Art der Pornografie in den Bereich der Softpornos, die auch Jugendlichen leicht zugänglich sind. Das Hardcore-Genre hat sich derweil weiterentwickelt: Sadomasochismus, Gewalt und Erniedrigungen beherrschen die Szene. Die sexuellen Vorlieben haben sich also mit der Zeit sehr stark verändert. Somit werden sexuelle Vorlieben offenbar auch von der Kultur und persönlichen Erfahrungen beeinflusst, womit sie weitgehend erlernt sind.
Die kritische Phase der sexuellen Entwicklung im Kindesalter
Bereits Freud erkannte die Plastizität der Sexualität. Er wies auf eine kritische Phase der sexuellen Plastizität hin, die sich in mehreren Schritten vollzieht. Die erste Phase ist die Liebe eines Kindes zu seinen Eltern. Kinder sind äußerst liebesbedürftig und entwickeln eine tiefe Bindung zu ihren Eltern. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wirkt sich auch auf die späteren Liebesbeziehungen der Kinder aus: Sind die Eltern fürsorglich, liebend und verlässlich, wird auch das Kind diese Art der Liebe zu seinem späteren Partner pflegen. Sind die Eltern jedoch distanziert, zornig und kühl dem Kind gegenüber, so wählt das Kind später häufig einen Partner mit ähnlichen Eigenschaften. Fällt ein sexueller Missbrauch in die Phase der kindlichen Sexualentwicklung, so hat dies schwerwiegende Folgen auf die späteren Einstellungen zur Sexualität des Kindes. Selbst die allgegenwärtige Softcore-Pornografie in den Medien beeinflussen Kinder und Jugendliche in ihrer sexuellen Entwicklung – speziell in der Phase, in der sich ihre sexuellen Vorlieben und Bedürfnisse entwickeln.
Pornografie macht süchtig
Nicht nur Alkohol und Drogen machen süchtig. Der Mensch kann auch spiel- oder gar sportsüchtig werden. Ebenso kann Pornografie eine Sucht sein und bedingt dadurch eine Gewöhnung. Paradoxerweise bewirkt die Sucht eine geringere sexuelle Lust. Mit zunehmender Gewöhnung benötigt ein Suchtkranker immer größere Mengen von der Droge, um eine Befriedigung zu verspüren. Mit zunehmender Sensibilisierung benötigt man jedoch immer weniger der Substanz, um ein intensives Verlangen zu verspüren. Ein starker Pornografiekonsum erzeugt ein immer größeres Verlagen nach immer härterem Sex. Denn die Plastizität des Gehirns beruht darauf, dass Bereich die ungenutzt sind, von anderen Breichen eingenommen werden. Je mehr man eine Sache tut, desto größer wird die zugehörige Gehirnkarte, also der Bereich, der diese Aktivität steuert. Entsprechend kann man den Grundsatz der Plastizität des Gehirns auch umgekehrt formulieren: Use it or loose it. Was nicht verwendet wird, wird von anderen Teilen des Gehirns eingenommen.
Quelle: Neustart im Kopf – Wie sich unser Gehirn selbst repariert, Norman Doidge, Campus Verlag GmbH Frankfurt am Main, 2008, ISBN: 978-3-593-38534-1